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Die Arc-Bibel – Das Buch der Wege II/II

Gleichnisse aus der Wanderzeit

Kapitel 2: Gleichnisse aus der Wanderzeit

In der Zeit nach dem ersten Bund, als die Völker begannen, ihre Wege zu suchen, da zogen viele aus – nicht um zu finden, sondern um zu erkennen. Sie nannten es nicht Flucht, sondern Wanderschaft. Und aus ihren Schritten wurden Gleichnisse, getragen vom Wind, vom Staub, vom Licht.


Das Gleichnis vom leeren Krug

Ein junger Halbaur namens Nelvar trug einen leeren Krug auf seiner Schulter. Er wanderte durch die Lande, bat um Wasser, doch wies jedes volle Gefäß ab. Die Menschen lachten ihn aus.

„Warum suchst du Wasser, wenn du keines nimmst?“ fragte ihn eine Alte.

Er antwortete: „Ich suche kein Wasser. Ich suche Durst.“

Am Ende seiner Reise fand er eine Quelle, doch er trank nicht. Stattdessen stellte er den leeren Krug daneben. „Wer leer ist, erkennt das Geschenk.“

Weisheit: „Fülle erkennt man erst, wenn man selbst leer ist.“


Das Gleichnis der drei Schatten

Ein Dravonir-Krieger namens Sarrak hatte sich auf die Suche nach Wahrheit gemacht. Er begegnete drei Schatten in der Wüste. Jeder bot ihm eine Wahrheit an:

  • Der erste sprach: „Ich bin deine Vergangenheit.“
  • Der zweite: „Ich bin deine Zukunft.“
  • Der dritte: „Ich bin das, was du sein willst.“

Sarrak schlug den dritten Schatten nieder, wandte sich vom zweiten ab und ging mit dem ersten schweigend weiter. Später sagte er: „Was ich war, hält mich ehrlich. Was ich sein will, lügt oft.“

Weisheit: „Wahrheit wandert nicht vor dir – sie wandert mit dir.“


Das Gleichnis vom schweigenden Kind

In den Bergen von Elytherion saß ein Kind unter einem Baum. Es sprach nie, doch alle, die vorbeikamen, sprachen mit ihm.

Ein Krieger suchte Rat, eine Seherin suchte Zeichen, ein Dieb suchte Vergebung. Das Kind schwieg. Und in diesem Schweigen hörte jeder genau das, was er brauchte.

Später erzählte man sich, das Kind sei der Arkon selbst gewesen – oder der Spiegel des eigenen Herzens.

Weisheit: „Wer nicht spricht, kann nicht lügen – und zeigt die Wahrheit deutlicher als Worte.“


Das Gleichnis vom Stein im Schuh

Ein Nythera-Wanderer namens Kael klagte über Schmerzen beim Gehen. In seinem Schuh war ein kleiner Stein. Doch er nahm ihn nicht heraus.

„Warum leidest du?“ fragte ihn ein Mitreisender.

Kael antwortete: „Jeder Schritt erinnert mich daran, dass ich gehe.“

Als er das Ziel erreichte, war der Stein nicht mehr im Schuh – sondern in seinem Herzen. Er hatte gelernt, mit dem Schmerz zu gehen, nicht gegen ihn.

Weisheit: „Nicht jeder Schmerz ist ein Feind. Manche Schmerzen sind Lehrer.“


Das Gleichnis vom gespaltenen Spiegel

Ein Elfenmädchen namens Liraen fand einen zerbrochenen Spiegel. Sie versuchte, ihn zusammenzusetzen, doch jedes Mal zeigte ihr das Glas ein anderes Gesicht. Wütend warf sie ihn in den Fluss.

Im Wasser aber sah sie plötzlich sich selbst – klarer als je zuvor.

Sie erkannte: Der Spiegel war nicht kaputt. Sie hatte nur sich selbst in Bruchstücken gesucht.

Weisheit: „Erkenne dich nicht in Teilen, sondern im Ganzen, das dich trägt.“


Das Gleichnis vom Lied ohne Melodie

Ein Sänger wanderte von Dorf zu Dorf und sang ein Lied, das keine Melodie hatte. Die Menschen verspotteten ihn.

„Wie kannst du singen ohne Ton?“

Er antwortete: „Ich singe nicht mit der Stimme. Ich singe mit dem Herz.“

Am Ende seiner Reise sang das ganze Tal sein Lied – nicht mit Lauten, sondern mit Blicken, Gesten, Taten.

Weisheit: „Manche Lieder werden nicht gehört – sie werden gelebt.“


Das Gleichnis von der brennenden Feder

Eine alte Seherin schrieb Weisheiten mit einer Feder aus Flamme. Alles, was sie schrieb, verbrannte.

„Warum schreibst du, wenn nichts bleibt?“ fragte ein Jüngling.

Sie lächelte: „Was im Feuer geschrieben ist, prägt nicht das Pergament – sondern die Seele.“

Weisheit: „Nicht jede Botschaft braucht ein Buch. Manche Worte brennen im Innern weiter.“


Das Gleichnis vom wandernden Kreis

Drei Freunde wanderten im Kreis. Immer wieder kamen sie zum selben Ort. Einer wurde wütend, der zweite verzweifelt – nur der dritte sagte: „Doch ich bin nicht mehr der, der ich war, als wir hier das erste Mal standen.“

Sie erkannten: Der Kreis war keine Sackgasse, sondern ein Spiegel ihrer eigenen Wandlung.

Weisheit: „Der Weg ändert sich nicht – du tust es.“


Der Pfad der Gleichnisse

Diese Geschichten reisten durch Arcadia. Keine war geschrieben, nur erinnert. Kein Name war heilig – aber jede Wahrheit war es.

Und der Arkon sprach: „Nicht ich bin es, der euch führt. Es ist das, was ihr erzählt – und was in euch weitergeht.“

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